// Antonia Steger  // 5. Juli 2012

Richtig leben: unmöglich

Verantwortungsbewusst erzogen, enthusiastisch erwachsen geworden - heillos überfordert. Wer richtig leben will, steht vor einer ganz schön langen Liste an schlechtem Gewissen. Ein züchtiger Wutausbruch.


Ein neues Umweltproblemen ist in den Fokus gerückt: PLASTIK. Die Meere sind zugemüllt und das schlimmer als angenommen. Die Politik reagiert darauf, indem sie die kleinen, weissen Plastiktüten verbieten will (warum nicht auch gleich die grossen?), wie u.a. 20 Minuten berichtete. Als Krönung der Zürcher Aufmerksamkeit ist das Plastikproblem auch im Museum für Gestaltung angekommen, wo eine Ausstellung über das Thema zu sehen ist (Endstation Meer, 4.7. - 23.9.2012).

Ein Punkt mehr auf der Liste. Auf der Liste des schlechten Gewissens, des Solltest, Müsstest, vor allem des Solltest-Nicht, des Neins und der Selbstkasteiung zwecks Nachhaltigkeit. Die ist nämlich ganz schön gewichtig:
  • Ozonloch (Benutz' keinen Haarspray, die 80er sind vorbei!)
  • Energiekrise (Schalt' ab! Mach' kalt! Denk' an die graue Energie, welche auch deine Joghourts infiltriert hat! Nein zu Atomstrom! Ab jetzt selbst Strom erzeugen!)
  • Erderwärmung (Fahr' kein Auto! Nein, deine alte Vespa ist ebenso schlimm! Da, dieses Gewitter ist deine Schuld! Verstopf den Kühen das Fudi, die mit ihrem Methan!)
  • Fleischkonsum (Wenn wir kein Fleisch essen, können wir die ganze Erde ernähren! Iss' keine überzüchteten Tiere, die ihr Leben nur Schmerzen leiden! Schlachte selbst, bevor du täglich mehrmals Fleisch konsumierst! Würg...)
  • Nahrungsmittelindustrie (Kauf' kein Gemüse von Spanien! Das Wasser deiner Melone fehlt dort den Menschen! Kauf regional, bio, saisonal! Auch verschrumpelte Kohlköpfe können lecker sein!)
  • Soziale Verträglichkeit (Kauf' nichts von China oder Bangladesch, dem neuen Billigland! Keine Smartphones, keine Turnschuhe, kein echter Schmuck, Billigschmuck erst recht nicht! Unterstütze keine Ausbeutung! Auch wenn du dir dann keine Unterhose mehr leisten kannst!)
  • Textilindustrie (Mittlerweile alle Kleider sind mit Chemikalien verseucht! Auch Gesundheitsschuhe werden im Bangladesch-"Bio" unter widrigsten Umständen produziert! Zieh' dich aus statt um!)
  • Gesundheitssystem (Bleib' gesund! Um jeden Preis! Denn bis du 50 bist, gibt es keine Krankenkasse mehr! Ganz abgesehen von AHV und sonstigen zukunftsverschönernden Dingen! Iss' Früchte, aber nicht aus Spanien! Beweg' dich, aber werde nicht zu heiss dabei!)
  • Politikverdrossenheit (Gehe wählen! Egal für was! Auch wenn du nicht weiter weisst! Auch wenn du nicht daran glaubst, dass irgend einer der Wählbaren auch nur ein bisschen bessere Ideen für die Zukunft hat als du!)
  • Ach ja, sei glücklich, geniesse dein junges Alter, die schönste Zeit deines Lebens! Werde ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft! Mach' was Rechtes!
Auch wenn ich die meisten dieser Gebote unterstütze und tagtäglich umzusetzen versuche, wo ich kann - so verstehe ich ebenso die Wütigen, die mal völlig ausrasten und losjetten, sich 31 Paar Billigschuhe zulegen müssen, passend zu ihren 67 Polyesterröckchen und 12 Pseudo-Markenbrillen, um danach so richtig haufenweise Koks, Alk und Ritalin reinzuwerfen, den zukünftigen Halux auslösend ein langes Wochenende durchtanzen und zum Frühstück am Dienstag Morgen hemmungslos im McDonald's fette Burger und literweise Fanta Zero reinschütten, das sie zwei Stunden später respektlos vor dem Berner Bundeshaus auf die Fussmatte kotzen.

Verantwortung ist wichtig, Zukunft auch. Aber sie nervt, so richtig. Wir versuchen sie wahrzunehmen, auch wenn wir wissen und immer wieder bestätigt bekommen, dass es eigentlich so wirklich richtig nichts bringt und alles nur noch globaler, unverständlicher und abgekarterter wird. Also ist diese Verantwortung vor allem eine schwere Hypothek auf unseren Hirnen, die uns zur völligen Einschüchterung oder Hemmungslosigkeit treibt. Und manchmal zu einer Portion Selbstmitleid im Anblick über die lächerliche Zufälligkeit, dass wir gerade als Schweizer Normalbürger und nicht als Giftarbeiter in Bangladesch, als brasilianisches Muskel-Huhn oder messianischer Obama geboren sind.

1 Kommentare:

le minable on 5. Juli 2012 um 09:50 hat gesagt…

Oh, wie war! Und dann noch all die Rechtfertigungsfragen, wenn man in vollem Bewusstsein gegen das gute Gewissen verstösst: Darf ich mir nach zehn faden Käse-Sandwichs das Poulet-Sandwich aus Brasilien gönnen? Nein, nimm doch was von zuhause mit!

Kommentar veröffentlichen