// Antonia Steger  // 29. Oktober 2012 2 Kommentare

Verweilen im Gehen

Was passiert, wenn man geht, ohne Ziel?

Gottseidank schneite es am Sonntag. Auf das Herbstlaub in allen Rosttönen legte sich der frühe Schnee wie tief herauf scheinendes Licht und leuchtete still in den grauen Nebeldeckel hinauf. Und wir gingen hindurch.
Marie-Anne Lerjen, Expertin für Gehkultur, experimentierte im Rahmen von "Zürich liest" einen Spaziergang in der Dämmerstunde des grossbürgerlichen Zürichs. Wir besuchten nichts, gingen ohne Erwartung. Nur manchmal schlüpften wir in öffentlich versteckte Pärke, begegneten im Vorbeistreifen seltsam ruhenden Villen. Ab und zu gaben literarische Zitate unserer einfachen und unerwartet schönen Tätigkeit kleine Impulse. Das enge Zusammenrücken um Marie-Anne Lerjen, um die Texte besser zu hören, die sie eigentümlich urchig-verschmitzt aufblitzen lässt... Manchmal kryptisch, doch das Gehen gab Raum, dem Nachhall nachzuhören.
Man ahnt die Erleichterung, einfach zu gehen, auch den Weg nicht als Ziel sehen zu müssen. Regung zu produzieren, den Blick frei zu schweifen, Erinnerung von den Wegen abzulösen. Bilder in den Raum in sich drin fallen zu lassen, wo sie Anregung auslösen und zurückfliessen in die Bewegung, bei der einer der Füsse immer auf dem Boden bleibt. Die Zeit dieser Villen ist nicht dieselbe wie unsere, wir durchstreifen aber doch dieselbe eine Zeit, die auch ohne uns immer fortzuschreiten scheint. Der ungewohnte Zauber entlud sich dann ganz auf der Hohen Promenade, wo zwischen dem Licht und dem Nebeldeckel, nach so langer Zeit, zwischen uns die bürgerlichen Geister immer noch in ihren Sonntagsgewändern stolzierten. Wäre die Kälte nicht gewesen, man hätte noch länger im Gehen verweilen mögen.